„Vertiefung des Pessimismus“ als Schlüssel zur Entwicklung von Nietzsches Denken
Germán Meléndez
1. Man hat oft und zurecht auf den fragmentarischen Charakter von Nietzsches Schreiben hingewiesen. In Anlehnung auf diesen formellen Zug von Nietzsches Schrifttum hat man oft suggeriert, daß Nietzsches Denken selbst bruchstückhaft sei. Wie auch immer die im Prinzip vieldeutige Rede von der Bruckstückhaftigkeit von Nietzsches Denken zu verstehen sei: es ist dennoch sicher, daß Nietzsche sich gegen diejenigen ausdrücklich gewehrt hat, die aufgrund von jenem bekannten stilistischen Merkmal seines Schrifttums dahinter nur „Stückwerk“ vermuten. „Gegen die Kurzsichtigen“, wie Nietzsche sie nennt, richtet er schon in Menschliches, Allzumenschliches (also ausgerechnet im ersten seiner Aphorismenbücher) die rhetorische Frage: “Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken gibt (und geben muß)?” (VM-128 [1]).
2. Was die Verhütung und Bekämpfung eines solchen kurzsichtigen Mißverständnisses anbelangt, war Nietzsche aber weit davon entfernt, es bei dieser oder jener isolierten Äußerung bewenden zu lassen. Als ständiger Ausleger seines eigenen Werkes hat sich Nietzsche immer wieder darum bemüht, eine grundlegende umfassende Einheit (Ganzheit) und Kontinuität im eigenen Denken hervorzuheben[2] (auch wenn diese wiederholte Bemühung sich zum großen Teil zerstreut in seinen Schriften findet). Geht man solcher Bemühung nach und versucht aus dem Material von Nietzsches rückblickenden Selbstauslegungen hilfreiche Schlüssel zur Erfassung von Einheit und Kontinuität in seinem Denken zu bekommen, so bieten sich manche äußerst bündigen und dementsprechend wertvollen Formeln Nietzsches an, mit deren Hilfe er selbst die Reihe seiner Schriften und die Abfolge seiner Denkwege und -umwege als auf eine Aufgabe konvergierend interpretieren wollte. So beruft sich Nietzsche z.B. in Ecce homo wiederholt auf die Formel „Umwerthung der Werte“, um die Aufgabe zu bezeichnen, die zu befördern er zu dieser Zeit als sein eigenstes Schicksal betrachtet[3], und die er glaubt von Anfang an (und das heißt hier: von der Geburt der Tragödie an) befördert zu haben[4].
3. Ich will im folgenden aber auf eine andere vereinheitlichende Formel eingehen, und zwar auf die Formel „Vertiefung alles bisherigen Pessimismus[5]“. Es wird mir dabei um Nietzsches Selbstauslegung gehen, und zwar um diejenige, die er um das Jahr 1886 entwickelt, d.h. um die Zeit, an der er anlässlich der geplanten Vorreden zu einer neuen Auflage seiner Schriften[6] einen besonders eindringlichen und umfassenden Rückblick auf seinen Denkweg wirft[7]. Solche Selbstauslegung findet in der Formel „Vertiefung des Pessimismus“ einen wichtigen prägnanten Ausdruck. Auf die Formel „Vertiefung des Pessimismus“ greife ich hier auch deswegen zurück, weil sie sich besonders gut dazu eignet, den Leser und Ausleger Nietzsches darauf einzustellen, Verbindungen zwischen bestimmten frühen Ansichten, die bei Nietzsche schon um die Zeit der Geburt der Tragödie enstanden sind und dem späteren Ansatz der von Menschliches, Allzumenschliches eröffneten Periode der „Freigeisterei“ wahrzunehmen. Der vorliegende Aufsatz kann aber nicht selbst diese Verbindungen bis in alle Einzelheiten herstellen, sondern lediglich solcher ausführlichen Arbeit als Grundlage dienen.
4. In diesem Beitrag möchte ich also Nietzsches 1886er Vorschlag für eine Periodisierung seiner Werke anhand der Formel „Vertiefung des Pessimismus“ (unter besonderer Berücksichtigung von Menschliches, Allzumenschliches) darlegen: eine Periodisierung, welche allerdings nicht die ohnehin wohlbekannte Veröffentlichungszeit seiner Schriften im Mittelpunkt hat, sondern vielmehr der davon abweichenden „Erlebniszeit“ des schriftlich Dargestellten Rechnung tragen will. Mit dieser Absicht im Sinne wird es nötig sein, die Verbindung zwischen Nietzsches Formel der Vertiefung des Pessimismus und Nietzsches gleichzeitiger Gegenüberstellung vom Pessimismus der Stärke und romantischem Pessimismus herzustellen[8]. Damit wäre also eine Grundlage für eine darauf folgende (über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehenden) Untersuchung über die Angemessenheit von Nietzsches 1886er retrospektiver Selbstauslegung im Bezug auf Menschliches, Allzumenschliches bereitgestellt.
5. Man findet die Formel „Vertiefung des Pessimismus“ im Rahmen eines höchst aufschlußreichen Rückblicks auf seine Entwicklung, den Nietzsche im ersten Abschnitt der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II (im September 1886) verzeichnet[9]:
6. Meine Schriften reden nur von meinen Überwindungen […] Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlichen Ausnahme, zurück zu datieren – sie reden immer von einem „Hinter-mir“ –: einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, noch zurück hinter die Entstehungs- und Erlebniszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der „Geburt der Tragödie“ im gegebenen Falle: wie es einem feinen Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf). […] Als ich sodann, in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, vor dem grossen Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte […] war ich für meine eigene Person schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin, das heisst ebensosehr in der Kritik als der Vertiefung alles bisherigen Pessimismus –, und glaubte bereits „an gar nichts mehr“, wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück „über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. (MA-II-Vorrede-1)
7. Mit einer einzigen Ausnahme (die er nicht beim Namen nennt) reden Nietzsches Schriften nur von dem, was er eigentlich schon im vollen Sinne „hinter sich“ hat, was schon „Erlebtes und Überlebtes“ (MA-II-Vorrede-1) darstellt. In dieser Hinsicht sind seine Bücher zurückzudatieren. So datiert Nietzsche die jeweiligen Erlebnisse und Gedanken der ersten drei Unzeitgemäßen Betrachtungen am weitesten zurück, nämlich auf eine Zeit vor der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie. So ist es nicht verwunderlich, daß zum Beispiel die dritte Unzeitgemäße Betrachtung eine Veröffentlichung ist, in der eine Stufe seines Denkens und Erlebens zum Ausdruck kommt, die weit hinter seinem damals (zur Zeit der Veröffentlichung) aktuellen, aber „geheim gehaltenen“ Denken und Erleben steht. Gerade in dem Augenblick, in dem Nietzsche dabei war, „dem großen Schopenhauer“ ein Denkmal in der Form des 1874 veröffentlichten dritten Stücks der Unzeitgemässen zu errichten, war es eigentlich schon lange vorbei mit der Ehrfurcht vor seinem „einzigen Erzieher“. Als Beweis hierfür verweist Nietzsche auf die im Jahr 1873 verfasste unveröffentlichte Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Darin würde man laut Nietzsche eine Kritik alles bisherigen Pessimismus, auch und insbesondere des Schopenhauerschen finden.
8. So steht es mit der Rückdatierung der ersten Unzeitgemässen (und des dritten Stücks der Unzeitgemäßen insbesondere) vor der Geburt der Tragödie. Wie ist es mit der zeitlichen Einordnung der Geburt der Tragödie selbst (gemeint ist nicht das veröffentlichte Buch, sondern die darin zur Sprache kommenden Erlebnisse), die hier als Bezugspunkt für die Rückdatierung dient? Da Nietzsche das dritte Stück der Unzeitgemäßen als schriftliches Zeugnis seiner ehemaligen Ehrfurcht vor Schopenhauer in eine Periode vor der „Entstehungs- und Erlebniszeit“ des Buches Geburt der Tragödie einordnet, muß dies logisch heißen, daß Nietzsche die Entstehungszeit der Geburt der Tragödie in eine Periode nach Nietzsches Schopenhauer-Verehrung einordnet. Aber was ist genau unter „Enstehungs- und Erlebniszeit“ eines Buches zu verstehen angesichts von Nietzsches Unterscheidung zwischen der Zeit des Erlebnisses und der Zeit der schriftlichen Festlegung desselben? Muß man nicht bloß das Buch, sondern auch die darin ausgedrückten Erlebnisse in eine der Schopenhauer-Verehrung nachfolgenden Periode einordnen? Wäre also dann die Geburt der Tragödie eher in die Nähe von der in Ueber Wahrheit und Lüge erreichten Stufe seines Denkens als in die Nähe des im dritten Stück der Unzeitgemäßen Dargestellten zu rücken? Es stellt sich also die Frage, ob in Nietzsches inhaltlicher Periodisierung auch die Geburt der Tragödie sich, zu welchem Grad auch immer, „ebensosehr in der Kritik als der Vertiefung des bisherigen Pessimismus“ befindet. Die Antwort auf diese Frage ist eine positive. Die Antwort ist teilweise — nämlich, was die Kritik des Pessimismus betrifft — in einer „Vorstufe“ zur endgültigen Fassung des oben zitierten Textes zu finden:
9. Als ich meine Dankbarkeit […] gegen Arthur Schopenhauer ausdrückte […] glaubte [ich] bereits […] an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück ‚über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘, – aber schon in der ‚Geburt der Tragödie‘ und ihrer Lehre vom Dionysischen erscheint der Schopenhauerische Pessimismus als überwunden. (NF-1886,6[4] [10])
10. Als Überwindung des Pessimismus muß die Lehre des Dionysischen eine zumindest implizite Kritik desselben enthalten.
11. Nun, falls man bei Nietzsche Kritik und Vertiefung des Pessimismus scharf auseinanderzuhalten hätte (und etwa nicht die Kritik gerade als Überwindung durch Vertiefung interpretiert[11]), muß man noch zusätzlich fragen, ob die Geburt der Tragödie nicht nur als Kritik, sondern auch als Vertiefung des Pessimismus aufzufassen ist. Die Antwort auf diese Frage ist wiederum eine positive. In einer nachgelassenen Aufzeichnung vom Juni/Juli 1885 behauptet Nietzsche, daß ein „extremer Pessimismus“ schon „hier und da aus meiner ‚Geburt der Tragödie‘ heraus klingt“ (NF-1885,36[49] [12]). Nachweislich hat man bei Nietzsche den „extremen Pessimismus“ als Folge einer Vertiefung des Pessimismus zu verstehen[13].
12. Der Erlebnisinhalt der Geburt der Tragödie, oder zumindest ein wesentlicher Teil davon (die darin dargestellte Lehre bzw. das Erlebnis des Dionysischen[14]), ist demzufolge in die Nähe von Über Wahrheit und Lüge zu rücken. Wenden wir uns nun dem zu, was Nietzsche über Menschliches, Allzumenschliches im Rahmen des in Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede § 1 verzeichneten Rückblicks sagt! Gegen das Ende des ersten Abschnitts der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II führt Nietzsche weiter aus:
13. Auf ihm [auf dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“], als einem Buche „für freie Geister“, liegt Etwas von der beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen, welche eine Menge schmerzlicher Dinge, die er unter sich hat, hinter sich hat, nachträglich für sich noch feststellt und gleichsam mit einer Nadelspitze fest sticht […] (MA-II-Vorrede-1)
14. Menschliches, Allzumenschliches (und zwar das ganze Buch mit seinen zwei Bänden[15]) wird als weiteres Beispiel einer Veröffentlichung vorgestellt, die „das Erlebte und Überlebte“ ,als „Factum oder Fatum nachträglich für die Erkenntnis“ bloßlegt (MA-II-Vorrede-1, Anfang) und dies so tut, daß man dabei den (von der Vorrede eben zu berichtigenden) Eindruck haben kann, es handele sich um Aktuelles. Im Hinblick auf eine Einordnung von Menschliches, Allzumenschliches innerhalb der sich langsam abzeichnenden Rekonstruktion von Nietzsches Entwicklung unter dem Aspekt der Vertiefung des Pessimismus hat man zunächst zu bestimmen, was nun im Fall von Menschliches, Allzumenschliches jeweils nachträglich dargestellt wird. Was ist das, was Menschliches, Allzumenschliches schon „unter sich“ und „hinter sich“ hat und erst im nachhinein aus der notwendigen Ferne psychologisch betrachtet? Abgesehen vom allzu vagen Hinweis auf jene „Menge schmerzlicher Dinge“, die er „über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens“ erlebt habe, läßt Nietzsche jedoch an der zitierten Stelle jegliche direkte Auskunft darüber aus, was er in Menschliches, Allzumenschliches nachträglich für sich festgestellt haben will. Bei aufmerksamer Lektüre der gesamten Vorrede vor dem Hintergrund der anderen, um dieselbe Zeit verfassten und auf das engste miteinander zusammenhängenden Vorreden[16] (zu Die Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft) ist es dennoch möglich, das in Menschliches, Allzumenschliches nachträglich Festgestellte näher zu bestimmen und es dann in Verhältnis zur in der Geburt der Tragödie und Ueber Wahrheit und Lüge entfalteten (besser vielleicht: sich entfaltenden) „Kritik und Vertiefung alles bisherigen Pessimismus“ zu bringen.
15. Ich greife zunächst auf dem unmittelbaren Zusammenhang des obigen Zitats, d.h. aufMenschliches, Allzumenschliches, Vorrede § 1 (MA-II-Vorrede-1), zurück. Es ist dort offenkundig, daß der Verfasser den Leser dazu bringen will (wie wir eben gesehen haben), eine Analogie zwischen den Unzeitgemäßen Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches herzustellen: so wie jene als verspätete Zeugnisse von bereits Erlebtem und Überlebtem zu betrachten sind, so auch dieses Werk. Es bleibt aber offen, ob und inwiefern die Analogie weiterzuführen ist. Versucht man die Analogie weiter zu treiben, so könnte der Text die Interpretation zulassen, daß so wie die ersten drei Unzeitgemäßen Betrachtungen Erlebnisse vor der Geburt der Tragödie nachträglich dokumentieren, so Menschliches, Allzumenschliches (als das unmittelbar nach den Unzeitgemäßen Betrachtungen veröffentlichte Werk Nietzsches) die bis dahin geheim gehaltene Kritik und Vertiefung des Pessimismus darlegen dürfte, und zwar wohl in der Form einer noch über die Geburt der Tragödie hinausreichenden Stufe derselben (der von Ueber Wahrheit und Lüge bereits erreichten?[17]). Aber kann man tatsächlich die Analogie so weit führen? Wäre Menschliches, Allzumenschliches in der Tat die nachträgliche Darstellung einer zuvor betriebenen und erlebten Kritik und Vertiefung des Pessimismus? Dafür scheint zu sprechen, daß Nietzsche in den folgenden Abschnitten der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II dieses Buch explizit als Ausdruck des Pessimismus, allerdings als Ausdruck des eigenen „guten Willens zum Pessimismus“ (des „tapferen Pessimismus“, wie es auch heißt) auffaßt, den er einem andersartigen Pessimismus, dem „romantischen Pessimismus“ (MA-II-Vorrede-5, 7) kritisch gegenüberstellt[18].
16. Aus ihnen [aus MA II als „Fortsetzung und Verdoppelung“ einer schon in MA I belegten Kur] redet ein Pessimist […] mit dem guten Willen zum Pessimismus, - somit jedenfalls kein Romantiker mehr. (MA-II-Vorrede-2)
17. – Dass ich schließlich meinen Gegensatz gegen den romantischen Pessimismus, das heisst zum Pessimismus der Entbehrenden, Missglückten, Uebrwundenen, noch in eine Formel bringe: es giebt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist. (MA-II-Vorrede-7)
18. Was soll nun dieser eigene Wille zum Pessimismus sein, wenn nicht gerade der Impuls zur selbst vorangetriebenen Vertiefung des Pessimismus als Kritik alles bisherigen Pessimismus? Oder sollten hingegen der Hinweis auf Nietzsches Willen zum Pessimismus einerseits und der Hinweis auf die Kritik und Vertiefung des Pessimismus andererseits streng auseinandergehalten werden? Als gleichzeitiger Gegenstand von Kritik und Vertiefung muß ja bei Nietzsche der Pessimismus eine eigentümliche Entzweiung und Absonderung erfahren. Entspricht nicht Nietzsches Gegenüberstellung von romantischem und tapferem Pessimismus gerade solcher Entzweiung? Wäre nicht dann der romantische Pessimismus der kritisierte, der tapfere Pessimismus der eigene, eigens vertiefte?
19. Das sind Fragen, die Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede § 1 an den Rest der Vorrede in bezug auf den Inhalt der Schrift richet. Diesbezüglich berichtet uns der Anfang von Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede § 2 erst einmal so viel: daß die in Vorrede § 1 nur vage angedeuteten „schmerzlichen Dinge“ zu einer „geistigen Kur, nämlich der antiromantischen Selbstbehandlung“ gehören, die Nietzsche sich aufgrund einer „zeitweiligen Erkrankung an der gefährlichsten Form der Romantik selbst erfunden, selbst verordnet hatte“ (MA-II-Vorrede-2). Nietzsche behauptet im folgenden, daß Menschliches, Allzumenschliches die nachträgliche Inszenierung eines Genesungsprozesses, eine praktisch und persönlich durchgelebte „Gesundheitslehre“, die den „heutigen Pessimisten eine Lektion“ geben dürfte. Die „heutigen Pessimisten“, erklärt Nietzsche, sind nämlich „allesamt“ der Gefahr der Romantik ausgesetzt (MA-II-Vorrede-2) und Menschliches, Allzumenschliches macht ihnen vor, wie man solcher Gefahr entkommen kann.
20. Aus § 2 der Vorrede entnimmt man also, daß die Romantik die Krankheit war, an der Nietzsche zeitweilig erkrankte. Sie ist die eigentliche Gefahr. Der Pessimismus stellt hier nur dadurch (und in indirekter Weise) eine Gefahr dar, daß er für die Romantik ziemlich anfällig ist. Zusammen genommen geben uns die folgenden Abschnitte dennoch ein anderes (besser vielleicht: ein reicheres) Bild. Der Pessimismus, wie wir gleich sehen werden, erscheint nun als eine Gefahr, in die sich der der Romantik Entkommende notwendig begibt[19].
21. Nietzsche verrät uns am Beispiel Wagners, welche Art von Romantik deren „gefährlichste Form“ darstellt: die vor dem Kreuz niedersinkende Romantik. Nietzsche berichtet, daß er schon zur Zeit von Wagners Bekehrung den Ort verlassen hatte, aus dem es möglich war, diesen unheilvollen Schritt zu machen, den Ort der gefährlichsten, Wagnerschen Romantik[20]. Aber an dieser Stelle, wo man in Anbetracht des in § 2 (MA-II-Vorrede-2) Ausgeführten mit Recht erwartet, daß Nietzsche das Verlassen dieses Ortes dem Anfang der geistigen Kur gleichkommen läßt, findet man einen weiteren Krankheitsbericht: eine neue Krankheit als Kur oder als Teil davon?
22. [M]ir selbst gab dies unerwartete Ereigniss [Wagners Niedersinken vor dem Kreuz] […] jenen nachträglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfindet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Entäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb […] müde aus Ekel vor dem Feministischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Romantik, vor der ganzen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung […] müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns, — dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei, tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein, als je vorher. (MA-II-Vorrede-3)
23. Nietzsche führt uns hier eine sonderliche Krankheit bzw. Müdigkeit vor Augen, die aus dem Ekel vor einer anderen, kürzlich überstandenen Krankheit („Erkrankung an der Romantik“) entsteht, deren ganz unheilvoller Charakter dem im Ansatz Genesenden erst jetzt bewußt wird. Dieser mit bitterer Enttäuschung verbundene Ekel ruft eine heftige heilende Reaktion hervor, die selbst aber pathologisch erschöpfend wirkt. Mit allem rachsüchtigen Grimm und Gram[21] greift man eindringlich auf das zurück, was vor dem Übel am besten hätte schützen müssen. Das Übel ist das Niederknien vor dem Kreuz oder, allgemein gesprochen, die romantische „Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung“ als Nährboden dieser und gleichartiger Abschwächungen. Diese Auskunft darüber, was an der Romantik überwunden werden soll, läßt schon vermuten, was dann zur äußerst anstrengenden antiromantischen Kur gehört, nämlich: Wahrhaftigkeit (vgl. MA-II-Vorrede-1), Strenge und Stärke des Intellekts (MA-II-Vorrede-7), „grundsätzliche Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehtuende der Erkenntnis, wie sie der Ekel [22] verordnete“ (FW-Vorrede-1); oder, wie es ja an der oben zitierten Stelle heißt: tiefer werdendes Mißtrauen. Damit ist die Selbstbehandlung schon ins Werk gesetzt.
24. Das Mißtrauen” macht selbst „krank, mehr als krank, nämlich müde“. Es bringt mit sich ein neues Leiden, und es ist eigentlich dieses Leiden, wovon Menschliches, Allzumenschliches ein verspätetes schriftliches Zeugnis ablegt. Denn es ist immer noch „ein Leidender und Entbehrender“, der in Menschliches, Allzumenschliches redet, bekräftigt uns Nietzsche, und zwar einer, der gerade mit jenen schmerzvollen Dingen behaftet ist, die laut dem obigen Zitat das verordnete tiefer bohrende Mißtrauen als Ursache und Folge (also in Wechselwirkung) begleiten: „Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung“ (MA-II-Vorrede-5). Die Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft sagt es deutlicher aus. Sie spricht wörtlich vom „Siechthum des schweren Verdachts“ (FW-Vorrede-4 [23]) und spricht auch diesem schweren Verdacht eine eigentümliche von der Krankheit erzwungene Vertiefung zu. „Der grosse Schmerz[24]“ als „Lehrmeister des grossen Verdachts“, so heißt es, „zwingt uns Philosophen in unsere letzte Tiefe zu steigen“ (FW-Vorrede-3); und „so viel Misstrauen, so viel Philosophie“ (FW-346).
25. Die Kur, die gegen die „zeitweilige Erkrankung an der gefährlichsten Form der Romantik“ verordnet ist, bringt also mit sich ihr eigenes Leiden, das seinerseits eine eigene Gefahr birgt und deswegen eine jeweilige Behandlung erforderlich macht. Die in diesem Leiden lauernde Gefahr ist nun die Gefahr des Pessimismus, genauer, „des romantischen Pessimismus“ bzw. des „Pessimismus der Lebensmüdigkeit“ (MA-II-Vorrede-5). (Die Kur gegen die Romantik muß in einer zweiten Phase zur Kur gegen den Pessimismus werden[25].) Die Gefahr liegt genauer in seinem „unwissenschaftlichen Grundhang“, „einzelne persönliche Erfahrungen zu allgemeinen Urtheilen, ja Welt-Verurtheilungen aufzubauschen, auszudeuten“ (MA-II-Vorrede-5). Dieser Grundhang gibt dann den Anstoß zur Lebensverneinung: dem wahren Kennzeichen des Pessimismus. Nietzsche spielt hier mit einem gleichsam logischen Bild des Pessimismus. Diesem Bild zufolge schließt der Pessimismus aus „Schmerz, Enttäuschung, Überdruß“, wie aus Prämissen, auf ‘Welt-Verurtheilung’ und ‘Lebens-Verneinung’ als Konklusion. Nietzsches Bekämpfung des Pessimismus (und gleichzeitige Vertiefung des Pessimismus in seinem Sinne) besteht dann darin, einen solchen Schluß immer standhafter „abzuknicken“[26], indem er aber auf gleichartigen, doch aus je tieferem Misstrauen geschöpften Prämissen beharrt. Mit dem Namen „Wille zum Pessimismus“ oder „tapferer Pessimismus“ tauft Nietzsche die willentliche Suche nach derartigen „Prämissen“ bei entstprechender Zähigkeit im Abknicken des weltverneinenden Schlusses, zu dem der Grundhang des romantischen Pessimismus hingegen unwiderstehlich neigt[27].
26. Das Vorangehende mag vielleicht schon zur Aufklärung dessen genügen, worauf die vage Rede von den in Menschliches, Allzumenschliches bloßgelegten „schmerzvollen Dinge“ Bezug nimmt. Wir müssen nun mit ihrer Hilfe auf die Frage nach dem Ort von Menschliches, Allzumenschliches innerhalb von Nietzsches 1886er Auslegung seiner Denkentwicklung und nach der entsprechenden inhaltlichen Einordnung im Verhältnis zu seinen anderen Schriften zurückgehen.
27. Es steht so weit fest, daß sich das in Menschliches, Allzumenschliches Dargestellte zur Zeit eines inneren Kampfes zwischen tapferem und romantischem Pessimismus ereignete, wie sie auf die Zeit seiner Erkrankung an der Romantik folgte. Was zu diesem Kampf den Anlaß gibt, sind die schmerzvollen Erkenntnisse (oben: Prämisse) einer gegen die Romantik gerichteten Vertiefung des Verdachts. Nun, von Mißtrauen und von Verdacht ist nicht nur in den Vorreden zu Menschliches, Allzumenschliches II und zurFröhlichen Wissenschaft, sondern auch in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I die Rede, und zwar hier (und das ist hier das Wichtige) in deutlichster Verbindung mit einem Blick auf Nietzsches Schriften im Ganzen.
28. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie“ an bis hin zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ [also: JGB]: sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, [..] beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur – menschlich-allzumenschlich? […] Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. (MA-I-Vorrede-1)
29. Auf diesen einsichtigen anonymen Kommentar reagiert Nietzsche gleich zustimmend:
30. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen hat […]
31. Es ist also klar, daß Nietzsche seine Schriften insgesamt als von einem tiefen Verdacht durchdrungen ansieht. Es mag also sehr wohl an einem bestimmten Zeitpunkt ein noch tiefer gehender Verdacht einsetzen (wie wir gesehen haben). Wahr ist dennoch, daß der Verdacht sich nicht erst an jenem späteren Zeitpunkt ans Werk macht. Dies erklärt allerdings, warum Nietzsche in seiner in Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede § 3 (MA-II-Vorrede-3) vorgetragenen Gesundheitslehre den Komparativ („tiefer misstrauen“) umsichtig gebraucht, ohne dabei jedoch den ganzen Hintergrund zu zeigen, der diesen Gebrauch erklärt. In Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede § 1 (MA-I-Vorrede-1) kommt er indessen voll in Sicht. Von der größten Bedeutung für jegliche Rekonstruktion dieses unmittelbaren Hintergrundes ist Nietzsches Erkundigung über die psychologischen Folgen „jede[s] tiefen Verdacht[s]“. Darauf geht Nietzsche ein, gleich nachdem er seinen einsichtigen Lesern solchen Verdacht als das Gemeinsame und Auszeichnende an allen seinen Schriften bestätigt hat:
32. wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehen, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte – in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit […] Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, – […] (MA-I-Vorrede-1)
33. Ist der Verdacht tief genug, ist jemand etwa von allen gewohnten Wertschätzungen weit genug abgekommen, so entsteht aufgrund der Radikalität dieses Andersdenkens eine auf Dauer unerträgliche Vereinsamung, von der man sich zeitweilig erholen muß, falls man danach mit erneuter Kraft auf diesen persönlichsten Argwohn zurückkehren will. Was Nietzsche, der ewig Mißtrauende, zur zeitweiligen Selbsterholung und darauf folgender Selbstwiederherstellung sich eingebildet zu haben behauptet, macht einen der bekanntesten Bestandteile seiner 1886er Selbstauslegung aus. Nietzsche habe sich als Notwehr gegen seine geistige Einsamkeit fälschlich eingebildet, in Schopenhauer und Wagner seinesgleichen zu haben; er habe sie und sich mißverstanden, nur um die allernotwendigste Gesellschaft zu genießen[28]. Er habe sich dabei „wissentlich-willentlich“ selbst betrogen (MA-I-Vorrede-1). (Der tiefe Verdacht kommt noch hellsichtig dahinter, den Eigendünkel als unvermeidliche Folge seiner selbst zu erkennen.) Wie es auch immer mit diesem wundervollen Wissen und Willen stehen mag: als einen vereinzelten, auf Anhieb vermeidlichen Irrtum dürfe man seinen zeitweiligen Selbstbetrug keineswegs interpretieren. Um diese Interpretation abzuweisen und um dabei zugleich die erstaunliche Erkenntnis über die Folgen jedes tiefen Verdachts an den Kern seiner Philosophie fest zu binden, geht Nietzsche dazu über, den eigenen Selbstbetrug als (allerdings wesentlichen) Nachweis einer der meist betonten Wahrheiten, zu der sein tiefer außermoralischer Verdacht von Anfang an gekommen war: daß der Irrtum notwendig zum Leben ist. Nietzsche beruft sich auf einer seiner ältesten und bekräftigtsten Ansichten[29] und ergründet damit die leicht unmerkliche „Logik“ (Notwendigkeit) seines Denkwegs, samt –umwegen, als die am eigenen Leib und Geist erlebte Inszenierung eines solchen Gedankens.
34. gesetzt aber, dies Alles wäre wahr […], was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, – und wie viel Falschheit mir noch noth thut, damit ich mir immer wieder meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?… Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung… aber nicht wahr? Da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller – und rede, aussermoralisch, „jenseits von Gut und Böse“? – (MA-I-Vorrede-1)
35. Wie die ersten (oben zitierten) Zeilen des Abschnitts, haben auch diese letzten Zeilen die Absicht, „etwas Gemeinsames und Auszeichnendes“ an Nietzsches Schriften, also Kontinuität in seinem Denken hervorzuheben. Demnach beschreiben sie mit dem Titel seines damals zuletzt veröffentlichten Werkes (Jenseits von Gut und Böse) das, was er „immer getan“ hat[30]. Aber wo wäre endlich Menschliches, Allzumenschliches innerhalb dieses breiten Bildes zu lokalisieren? Es besteht kein Zweifel: Menschliches, Allzumenschliches entspricht Nietzsches Rückkehr zum wieder gestatteten Luxus seiner Wahrhaftigkeit nach einer notgedrungenen Selbsterholung im Selbstbetrug bzw. in der Selbstverwechselung. Es sollte aus dem Kontext unserer Analyse klar sein, daß diese wieder errungene Wahrhaftigkeit auf derselben Stufe und zu derselben Zeit einsetzt wie der tapfere Pessimismus (der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II) und dessen tiefer greifendes Mißtrauen. Nietzsche selbst weist dem Pessimismus denselben Standort der besagten Wahrhaftigkeit zu. Er spricht nämlich beiden zu, das erreichte Ziel einer Rückkehr zu sich selbst zu sein.
36. […] so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder [von mir unterstrichen], der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu „mir“ selbst, zu meiner Aufgabe. (MA-II-Vorrede-4 [31])
37. Von diesem tapferen Pessimismus, auf den Nietzsche auch mit dem „Willen zum Tragischen und zum Pessimismus“ Bezug nimmt, heißt es auch gegen Ende der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II:
38. Dies war meine pessimistische Perspektive von Anbeginn, – eine neue Perspektive, wie mich dünkt? eine solche, die auch heute noch neu und fremd ist? Bis zu diesem Augenblick halte ich an ihr fest […] (MA-II-Vorrede-7)
39. Der späte Nietzsche betrachtet sein Denken „von Anbeginn“[32] und „bis zu diesem Augenblick“, nämlich bis 1886[33], als die Entfaltung einer eigenen „pessimistischen Perspektive“ und möchte auch sein Buch Menschliches, Allzumenschliches als Teil dieser Entfaltung verstanden wissen. Zu dieser Entfaltung gehört, wie gesagt, die Abkehr von sich (Entfremdung) und die Rückkehr zu sich. Zu ihr gehört die zeitweilige Verwechselung dessen, was von Anbeginn das propium und ipsissimum ist, nämlich des tapferen, dionysischen Pessimismus[34] mit der Romantik des philosophischen Pessimismus und der deutschen Musik[35]. Zu ihr gehört dann die leiblich durchgemachte Aussonderung des Verwechselten als Entzweiung und innerlicher Kampf des Entzweiten. Menschliches, Allzumenschliches ist die nachträgliche schriftliche Festlegung dieser Entzweiung und dieses innerlichen Kampfes. Die Unterscheidung zwischen dionysischem und romantischem Pessimismus ist die noch spätere begriffliche Festlegung der am eigenen Leib erfahrenen Aussonderung. Nietzsches 1886er Selbstauslegung ist der Versuch, die eigene Entwicklung anhand dieser begrifflichen Unterscheidung zu verschlüsseln. Sie erscheint als Geschichte einer willentlichen Vertiefung des Pessimismus. Wußte damals diese „räthselhafte Begierde […], den Pessimismus in die Tiefe zu denken“, wußte damals dieser Wille zum Pessimismus selbst, wohin er führte? Als ob er damit auch eine Antwort auf diese Frage mit einbegreifen, oder gerade auf sie recht eingehen würde, schreibt Nietzsche im letzten Rückblick auf sein Werk, in Ecce homo:
40. An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben […] Angenommen nämlich, dass die Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der Aufgabe über ein durchschnittliches Maass bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr grösser als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen. Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Werth, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege, die Verzögerungen, die „Bescheidenheiten“, der Ernst, auf Aufgaben verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin kann eine grosse Klugheit, sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck kommen: wo nosce te ipsum das Recept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Missverstehen, Sich-Verkleinern, -Verengern, -Vermittelmäßigen zur Vernunft selber. (EH-Klug-9)